Am 18. März wäre Egon Bahr 100 Jahre alt geworden. Zwischen 1976 und 1983 war er unser Vertreter im Bundestag und hat als Architekt der „Neuen Ostpolitik“ und Vertrauter Willy Brandts die europäische Sicherheitsarchitektur der letzten 50 Jahre nachhaltig geprägt.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine stellt sich jedoch die Frage, ob die Bemühungen der Neuen Ostpolitik vergebens waren. Ist das Konzept des „Wandels durch Annäherung“ gescheitert? Und wie kann eine sozialdemokratische Antwort auf die neuerliche Situation aussehen?
Diese und weitere Fragen wurden am Mittwochabend in einer Podiumsdiskussion mit rund 40 interessierten Besuchern in der Akademie Sankelmark erörtert. Durch den Abend führte Journalist und Radiomoderator Carsten Kock, der mit seinen gewitzten und teils spitzzüngigen Überleitungen nicht nur einmal für eine aufgelockerte Stimmung bei diesem sonst so ernsten Thema sorgte.
Der ehemalige OSZE-Wahlbeobachter in der Ukraine und Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte, Prof. Dr. Frank Golczewski, beschrieb zunächst die historisch gewachsene Situation Russlands und wies mehrmals deutlich auf die ökonomische Lage des Landes hin. „In der Sowjetunion wollte man vorwärts gehen, sah eine Zukunft vor sich – das ist heute in Russland so nicht mehr vorhanden“, so Golczewski. „Die Sicht in Russland ist heute retrospektiv.“
Einher ginge das mit einem Ideologienwandel, der seinen vorläufigen Höhepunkt nun in einer sehr plumpen Form des Nationalismus gefunden habe. Die heutige Führung Russlands sähe vor allem ein Sammelsurium heroischer, vergangener Taten, die sie gern wiederholen würde. Auf diesem Weg stünde aber nur die eigene Bereicherung in der Geschichte im Vordergrund, so Golczewski, nicht aber echte Demokratie, echte Politik für alle Menschen des Landes.
Dennoch sieht er Egon Bahrs Ostpolitik nicht vollends als gescheitert an. Vielmehr müsse man heute die Annäherung an die Mittelschicht Russlands schaffen, an die Intellektuellen, an Künstler und so versuchen, einen Wandel herbeizuführen.
Auch MdB Dr. Ralf Stegner war zu Gast und machte vor allem deutlich, dass es nichts Schlimmeres als Krieg gibt. Die aktuelle Situation dürfe nun auf keinen Fall zu einem Auf- und Wettrüsten führen, so Stegner, denn: „Die Hauptaufgabe der Politik ist immer Deeskalation!“ Er halte es da ebenfalls mit Egon Bahr, führte er aus, der immer dafür warb, sich auch in die Position der anderen Seite hineinzuversetzen. „Man muss Putin überhaupt nicht zustimmen, aber man muss versuchen, ihn zu verstehen“, sagte Stegner. Man müsse Putin zurück zu Verhandlungen bringen, denn der aktuellen Zeitenwende sollte man nicht mit Militarisierung, sondern mit Verhandlungen begegnen. „Ich wünsche mir generell weniger starke und harsche Worte und mehr starke Friedenspolitik“, sagte Stegner.
Was Egon Bahr denn heute sagen würde, fragte Carsten Kock die Gäste noch. „Dass man auch mit denen reden muss, deren Meinung einem unangenehm sei“, sinnierte Stegner.
Und auch wenn den Abend hindurch immer wieder auch lustige Anekdoten über Egon Bahr den Raum füllten, tauchte immer wieder ein fast schon wehmütiger Satz auf: „Menschen wie ihn, die könnten wir gerade gut gebrauchen.“